Es war einmal. Ja, so beginnen alle Märchen, auch dieses, obwohl dies gar kein Märchen ist. Also: Es war einmal ein Mann, der konnte wunderbare Bilder malen. Das Wunderbare daran war, dass er glaubte, sie würden anderen Leuten besser gefallen als ihm selbst. In Wirklichkeit aber gefielen sie den anderen Menschen genau so wenig wie ihm selbst.

Schon als Junge gab er während des Krieges einen Teil seiner Essensmarken her und organisierte sich dafür Farben, Pinsel und Papier. So viel seine Mutter auch schimpfte und zeterte, er gab nicht nur seine eigenen Essensmarken her, sondern die Essensmarken der ganzen Familie wurden in Farben umgesetzt. So war es nicht verwunderlich, dass in den letzten Kriegstagen seine Mutter das Schimpfen aufgehört hatte, sie überlebte die extravaganten Ausgaben ihres Sohnes nicht und war verhungert. Da der Sohn zu der Zeit an einem großen Meisterwerk beschäftigt war, fiel ihm eigentlich nur auf, dass es plötzlich so ruhig in der Wohnung geworden war. Er glaubte, seine Mutter wäre bei Fliegeralarm gewiss wieder in den Luftschutzkeller geflüchtet, eine profane Tätigkeit, für die er sich nie die Zeit nahm. Und so suchte er auch nicht lange nach ihr. Als dann zwischen zwei Bombenalarmen sein jüngerer Bruder die Leiche seiner Mutter zwischen den Trümmern verscharrte, malte er auch davon ein Bild.

Nun hatte er schon viele hundert Bilder gemalt. Er malte Großstädte, Hunde, alte Menschen, einsame Hügellandschaften, Frauen, Häuser, Pferde Kinder. Nein, Stillleben nicht. Er malte zwar Stillleben, nannte es aber nicht so, weil er nie genau wusste, ob es nun mit zwei oder drei l geschrieben wurde. - Alles, was ihm über den Weg lief, wurde Opfer seiner Malerei, alles musste sich gefallen lassen, von ihm gemalt zu werden. An Malern hatte er keine Vorbilder, er war sich selbst Vorbild genug, sagte er sich immer.

Drei seiner Bilder gelangten einmal in eine Ausstellung, es war der Anfang seiner Karriere, bald würde er als Künstler bekannt sein! Doch als er selbst einmal in die Ausstellung ging, musste er mit Bedauern feststellen, dass die Besucher interesselos an seinen Werken vorbei gingen. Er stellte sich in einiger Entfernung vor seinen Bildern auf und betrachtete sie. Wenn Besucher interesselos an seinen Werken vorbeigingen, hielt er sie auf und fragte, ob sie denn Näheres über diesen Johann Herlinger wüssten, der diese herrlichen Bilder gemalt habe. Natürlich wussten sie nichts, sie kannten nicht einmal den Namen.

"Johann Herlinger" fügte er dann meist hinzu, "diesen Namen muss man sich merken, es wird sicher einmal einer von den ganz Großen."

Es versteht sich von selbst, dass er es vermied, nebenbei zu erwähnen, dass er dieser Johann Herlinger sei. So schaffte er es, bei den Besuchern kleines bis mittleres Interesse zu erregen. Einmal gelang es ihm sogar, einem Besucher, der ein Bild in einem ganz bestimmten Format suchte, ein Bild für fünfhundertzwanzig Mark zu verkaufen. Nun wusste er, dass er berühmt war und seiner allgemeinen Anerkennung als Künstler stand nichts mehr im Weg.

So gab er sich wieder damit zufrieden, vor seinen Bilden Aufstellung zu beziehen und sie eingehend zu betrachten. Er hatte es nicht mehr nötig, die Besucher anzusprechen. Tagelang betrachtete es seine Bilder, die nun bald in der ganzen Welt Anerkennung finden würden, an denen aber die Besucher, diese Banausen, aber noch mit Desinteresse vorbeigingen. Er betrachtete auch seinen Namen, der unter den restlichen beiden Bildern stand:
Johann Herlinger (* 1.4.1930)

Ein Name und ein Datum, das bald in aller Mund sein würde. Er wusste, dass der Start für seine Karriere gemacht war.

Und wieder betrachtete er seinen Namen und er überlegte, was einmal hinter dem "*1.4.1930" stehen würde. Und er scharf darüber nach, er kam aber zu keinem Ergebnis wahrscheinlich lag es daran, dass er noch nie richtig über etwas nachgedacht hatte. Jetzt, da er das erste mal in seinem Leben richtig zu denken versuchte, konnte er zu keinem Ergebnis kommen. Und trotzdem wollte er gerne wissen, welches Datum einmal hinter einem, ach so berühmten Namen stehen werde. Er fand keine Lösung, aber er dachte weiter: Wie wäre es mit dem 14.8.1997? Nein, das konnten sich die Kinder in der Schule nie merken. - Wie wäre es gleich heute, am 26.4.1970? Nein, auch zu kompliziert. Hinter einem großen Namen muss ein einfaches Datum stehen, wie ja auch sein Geburtstag am 1. April 1930 leicht zu merken war. Wie wäre es am 1.5.1970? - Ja, das war es, wonach er suchte. Leicht zu merken.
"Wie wäre es trotzdem erst am 1.5.1990?", fragte er sich.
Doch ihm kamen Zweifel. Wer konnte wissen was in zehn oder gar zwanzig Jahren alles passieren kann. Also doch am 1.5.1970. Es ist leicht zu merken und er weiß schon vor seinem Tod, welches Todesdatum einmal hinter seinem großen Namen stehen würde.

So harrte er die folgenden Tage in der Ausstellung aus und betrachtete die Bilder und seinen Namen. Er konnte getrost und in Ruhe dahin scheiden, denn er hatte schon viele hundert Bilder gemalt, die ihn alle nach seinem Tod berühmt machen werden. So verließ er am 20.4.1970 als letzter die Ausstellung, nachdem er hinter seinem Namen und seinem Geburtsdatum seinen Todestag ergänzte: + 1.5.1970.

Er war zufrieden. Dann eilte er nach Hause und wartete bis Mitternacht, indem er sich zum letzten Mal seine Bilder anschaute. Dann dichtete er Fenster und Türen ab, drehte das Licht aus und den Gashahn auf.

Eine Woche lang gingen die Besucher der Ausstellung interesselos an seinen Bildern vorbei und ihnen fiel auch nicht der Zusatz hinter dem Namen auf. Nur ein Besucher, der vor langer Zeit von Johann Herlinger angesprochen worden war, entdeckte den Zusatz und meldete es.

Am 9. Mai wurde von der Polizei die Tür zu Herlingers Dachkammer aufgebrochen. Spärlich eingerichtet, sehr eng, unzählige Bilder. Und da, auf dem Fußboden lag er, lang und mager, ein schmales Gesicht ausgestreckte Arme und lange ungepflegte Haare. Er lag da, wie er immer war, wie ihn aber niemand kannte. Niemanden fiel das zufriedenen Lächeln um die Mundwinkeln auf, ein Lächeln, das die Gewissheit widerspiegelte, dass die Bilder um ihn herum, und er natürlich selbst, große Berühmtheit erlangen würden, und dass seine Daten leicht zu merken sind:
Johann Herlinger *1.4.1930 +1.5.1970

Am 11. Mai brachte die lokale Tageszeitung folgende Notiz:
Am Sonntag wurde der berufslose Johann Herlinger tot in seiner Wohnung gefunden. Vermutlich ist Herlinger schon am 1. Mai freiwillig aus dem Leben geschieden. Geld oder Wertgegenstände waren nicht in Besitz des arbeitslosen Junggesellen. Man vermutet, dass ihn Geldmangel oder Einsamkeit bewegt hat, den Gashahn aufzudrehen.

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